Mein Name ist Amy. Ich bin eine junge Frau, gerade mal neunzehn Jahre alt, und kenne nicht viel vom Leben. Seit ich mich erinnern kann, habe ich in einem Heim gelebt. Meine leibliche Mutter hat mich mit drei Jahren weggegeben, weil sie damit nicht klarkam, dass ich behindert war: Die Ärzte hatten bei mir eine Muskelschwäche in den Beinen festgestellt.

Um es vorwegzunehmen: Es ist eine Krankheit, die mich heute größtenteils an den Rollstuhl fesselt. Einige Schritte kann ich zwar ohne Rollstuhl laufen, aber das nur mit Hilfe, das heißt, jemand muss mich festhalten und stützen. Die Aussicht auf ein Leben mit einem behinderten Kind war für sie unerträglich, und so gab sie mich fort.

Das Einzige, was mich an sie erinnerte, war eine Kette mit einem Anhänger in Form eines Kreuzes, das mit Steinen besetzt war. Seit ich denken konnte, trug ich diese Kette. Allerdings bedeutete mir der Anhänger nicht sehr viel; ich fand ihn einfach schön – eine Verbindung zu meiner Mutter spürte ich dadurch nicht.

Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, ist das Leben in einem Heim nicht gerade leicht, vor allem, wenn man noch durch eine Behinderung eingeschränkt ist. Die anderen Kinder hackten auf mir herum und ließen es sich nicht nehmen, mich zu ärgern und zu quälen. Warum sie das taten, weiß ich nicht; vermutlich machte es ihnen einfach Spaß, weil ich mich wegen meiner körperlichen Einschränkung nicht wehren konnte. Und sie machten sich über meine Behinderung lustig. Ich war wohl ein gefundenes Fressen für sie; endlich hatten sie jemanden, an dem sie all ihre Wut und ihren Schmerz darüber, dass sie keine Eltern hatten, auslassen konnten. Glücklich war ja keiner hier, und so suchte sich jeder einen noch Unglücklicheren, an dem er seine Ängste austoben konnte – und da kam ich gerade recht.

Die Schwestern waren mit der Situation überfordert und hielten sich aus der Sache heraus. Sie ignorierten es einfach, dass einem ihrer Schützlinge Leid zugefügt wurde. Ich fragte mich immer, wie sie in einen Spiegel schauen konnten, ohne sich schlecht zu fühlen.

Selbst nachts kam ich nicht zur Ruhe, denn es war inzwischen ein Riesenspaß für die anderen, mich zu dieser Zeit in meinem Zimmer zu besuchen. Und ich kann euch sagen: Eine Meute von Menschen, die nur Hass im Herzen hat, kommt auf die tollsten Ideen. So kam es, dass ich von den nächtlichen Besuchen der anderen regelmäßig Verletzungen davontrug. Es interessierte niemanden, wenn ich mit blauen Flecken oder kleineren Platzwunden am Kopf zum Frühstück kam, sie schauten einfach darüber hinweg. Vor lauter Angst ließ ich nachts das Licht an. Ich hoffte, dass man mich in Ruhe ließ, wenn sie glaubten, ich sei noch wach. Erst klappte das auch, aber mit der Zeit bekamen sie heraus, dass es eben nur ein Trick war, und alles ging weiter wie bisher.

Ich zog mich immer mehr in meine eigene Welt zurück und ließ nichts und niemanden mehr an mich heran. Ich baute eine hohe Mauer um mich und stumpfte in der Einsamkeit immer mehr ab. Gefühle ließ ich nicht mehr zu. Ich wurde kalt wie ein Stein und ließ die Demütigungen einfach an mir abprallen.

© Britta Kummer